Das Erbe der Nasriden
Das Reich der Nasriden war immer bedroht, die wirtschaftliche Lage nie von Überfluss geprägt. Umso erstaunlicher, was die Baumeister der Alhambra mit bescheidenen Mitteln schufen. Lehm, Holz und Gips - die Rohstoffe fand man vor Ort, und aus ihnen besteht die ganze Festungsstadt.
Von den Babyloniern und Ägyptern bis über die Griechen und Römer - seit jeher haben Architekten die Vorteile von Gips geschätzt: Er ist fast überall zu finden und leicht zu verarbeiten. Aber nirgends sind aus Gips so vielfältige und raffinierte Motive entstanden wie in der Alhambra.
Im 14. und 15. Jahrhundert begannen die Nasriden, Dekorationen in Serie zu produzieren. Zuvor war es üblich, die Gips-Verzierungen direkt auf der Wand zu schnitzen. Jetzt aber stellte man von einer Vorlage einen Abdruck her und daraus eine Gussform. So konnten einzelne Motive vervielfältigt werden - ein großer Fortschritt.
Die Restaurierung der äußerst feinen Verzierungen bedarf höchster Fachkompetenz. Ein großes Problem: Es ist schwierig, genau zu bestimmen, was im Original erhalten ist und was im Laufe der Jahrhunderte verändert wurde. Auch auf Materiallisten der Katholischen Könige findet sich Gips - ein Hinweis darauf, dass sie gleich nach der Eroberung der Alhambra Reparaturen vornahmen oder sogar mit neuen Dekorationen die Kunst der Nasriden nachahmten. Den muslimischen ehemaligen Bewohnern der Alhambra trauten sie dabei allerdings nicht - die neuen Hausherren ließen extra einen Stuckateur-Meister aus Saragossa kommen. Mit seinen beiden Lehrlingen nahm er im März 1492 seine Arbeit auf.
Im 19. Jahrhundert begannen man endlich, die Alhambra systematisch zu restaurieren. Allerdings ließen die Konservatoren ihren eigenen ästhetischen Vorstellungen freien Lauf. So versuchten sie etwa Bruchstellen zwischen neu eingesetzten Gipsplatten und den alten zu kaschieren. Dafür bepinselten sie die Flächen mit einer braunen Flüssigkeit. Selbst originale Farben opferten sie dem Effekt: Sie wollten eine uralte Patina vortäuschen. Bis heute sind die Wände bräunlich gefärbt - doch zu Zeiten der Sultane waren sie strahlend weiß, mit farbigen Verzierungen. Mit Hilfe von Schwarzlicht können wir heute erkennen, welche Stellen nachträglich ausgebessert wurden.
Aber auch mit Holz bewiesen die Handwerker der Nasriden ihre Meisterschaft. Die Decke des Mirador de Lindaraja ist die einzige ihrer Art, die erhalten geblieben ist. Sie gibt uns eine Vorstellung davon, wie die meisten Fenster der Alhambra ausgesehen haben müssen. Die Restaurierung des Holzrahmens mit seinen bunten Glasstücken - ein dreidimensionales Puzzle.
Wie hier beim hydraulischen System des Löwenhofs sind bei Restaurierungen alle Experten gefragt: Archäologen, Kunsthistoriker, Architekten und Restauratoren. Nur gemeinsam können sie mit wissenschaftlicher Akribie dem Erbe der Nasriden auf die Spur kommen.
Allerdings sind im Laufe der Jahrhunderte manche Ornamente und ganze Architekturelemente verloren gegangen - nicht zuletzt weil die Restauratoren nicht immer die wahre Geschichte der Bauwerke bewahrt haben. Das bekannteste Beispiel hierfür dürfte wohl der Streit um die Kuppel im Löwenhof sein.
Im 19. Jahrhundert war der französische Architekt Eugène Viollet le-Duc ein führender Restaurator. Er war ein profunder Kenner alter Bautechniken - aber es ging es ihm nicht primär darum, gewachsene Geschichte zu bewahren. Er wollte ein Bauwerk in seinem "prägenden Stil" auferstehen lassen. Was nicht zum festgesetzten Stil passte, wurde beseitigt. Mit diesem Leitbild beeinflusste er eine ganze Epoche. Auch die Restauratoren der Alhambra: Sie erfanden das Ideal eines "arabischen Stils". Im Jahre 1859 ersetzten sie bei einem Pavillon im Löwenhof das Dach durch eine Kuppel mit Keramikziegeln - sie sollte dem Stil des Orients entsprechen.
"Natürlich waren sie Sklaven ihrer Zeit und Romantiker. Sie haben eine romantische Alhambra erschaffen. Dem folgte auch das Tempelchen auf einem der Pavillons im Löwenhof. Dieser Tempel wirkte halb türkisch, halb persisch, auch ein bisschen hinduistisch. Das Ergebnis war offenkundig: die orientalische Haube ergab keinerlei Sinn."
Das schrieb Emilio Garcia Gomez, selbst ein berühmter Arabist.
1924 wurde der Architekt Leopoldo Torres Balbás zum Chef-Konservator. Er ließ die Kuppel abreißen - und das Originaldach wieder aufsetzen. Eine Sensation! Selbst in London, Berlin und Paris berichteten die Zeitungen. Ein neues Denken hatte Einzug gehalten: Seit Torres Balbás bestimmen nicht mehr romantische Fantasien die Restaurierung der Alhambra, sondern wissenschaftliche Kriterien und der Respekt vor den einmaligen Originalen.
Damals gab es in ganz Granada empörte Debatten: Viele hatten sich an ihre schöne, romantische Alhambra gewöhnt und warfen dem neuen Restaurator vor, sie zu verschandeln. Heute profitiert die Menschheit von den Kenntnissen, die die Experten hier erworben haben.
María del Mar Villafranca Jiménez, Direktor der Alhambra:
"Die Alhambra leistet nicht nur Konservierungsarbeit, sondern bemüht sich auch, die Idee der Alhambra zu verbreiten. In diesem Sinne arbeiten wir daran, das Kulturerbe zu erhalten, um es künftigen Generationen zur weiteren Nutzung zu überlassen."
Die Bildungsangebote zielen darauf, das Verständnis anderer Kulturen zu fördern - der direkte Kontakt mit der Geschichte weckt Neugier auf andere Lebens- und Ausdrucksformen.
Die Alhambra und der Generalife sind lebendige Denkmäler: Das berühmte Musik- und Tanzfestival Granadas feiert gerade seine 60. Ausgabe. Die Paläste der Nasriden und ihre Gärten laden auch dieses Jahr Musiker und Künstler aller Welt zu einem Festival der Sinne - in eine spektakuläre Kulisse.
María del Mar Villafranca Jiménez:
"Granada ist ja wegen der Alhambra eine internationale Stadt. Vielleicht weil sie ein einzigartiger Ort ist und vielleicht, weil es möglich war, das Erbe zu erhalten und es heute viele genießen können: jedes Jahr kommen Millionen Besucher. Sie ist aber auch ein Symbol, das ein Licht auf uns selbst wirft. Ich glaube sogar, dass sie ein besonderes Symbol für das ganze Land ist. Denn wenn wir uns damit beschäftigen, wofür die Alhmbra steht, stoßen wir auf eine reiche Vergangenheit - eine Vergangenheit der kulturellen Verschmelzung, eine Vergangenheit, die es zu verstehen gilt - auch als Schlüssel für gutes Zusammenleben, das wir heute so dringend brauchen."