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Der befreite Blick

Ende des neunzehnten Jahrhunderts war Wilhelm von Bode Direktor der Gemäldegalerie - weltweit geachtet und gefürchtet zugleich für seine Kennerschaft und seine Durchsetzungskraft. Er verschaffte der Berliner Galerie internationalen Ruhm; er kannte fast jedes Bild und fast jeden Sammler oder Händler in Europa. 1897 gründete er den Kaiser-Friedrich-Museumsverein, der noch heute die Sammlungen unterstützt - der älteste Freundeskreis staatlicher Kunstmuseen in Europa. Und Bode setzte den Bau eines neuen Museums durch. Bis 1997 war es Heimat der Gemäldesammlung, und seit einem halben Jahrhundert trägt es seinen Namen: das Bodemuseum.

Im Jahre 1903 gelangte dieses Bild in die Galerie. Eigentlich war es der italienischen Regierung angeboten worden, für die Galleria Borghese in Rom - aber die war nicht interessiert. So kam es in den Kunsthandel, ein Berliner Sammler kaufte es und überließ es der Gemäldegalerie. Und dort war es Wilhelm von Bode, der seinen wahren Wert erkannte. Denn es stammt vom großen Giovanni Bellini - und ist ein kunsthistorischer Meilenstein.

Für die Friedhofskirche von Venedig hat Bellini es 1479 vollendet. Es zeigt die Auferstehung Christi: am Ostermorgen kommen die drei Marien, um nach dem Grab von Jesus zu sehen. Doch das ist leer. Soldaten hätten es eigentlich bewachen sollen, aber einer von ihnen wacht gerade auf, ein anderer schläft noch - und der dritte staunt. Denn der auferstandene Christus schwebt am Morgenhimmel. Und das ist das Neue: die Morgenröte in Verbindung mit der Auferstehung. Jesus ist aus der Dunkelheit des Todes auferstanden, und die Dunkelheit der Nacht wird von der Sonne verdrängt. Die Naturerscheinung selbst als Sinnbild für den religiösen Inhalt - das hatte vor Bellini niemand so gemalt, auch in der Renaissancemetropole Florenz nicht.

Der fließende Übergang vom Gelb des Sonnenaufgangs zum Blau des Himmels ist typisch für den venezianischen Stil: in Florenz steht die Zeichnung, das "disegno" im Vordergrund - in Venedig aber spielen die Farben die Hauptrolle. Das liegt zunächst sicher am einzigartigen Licht, am Glitzern der Sonne auf der Lagune. Zum anderen aber kommen hier die kostbaren Farben direkt aus dem Orient an. Guter Lapislazuli zum Beispiel wird nur in Afghanistan gefunden. Er kommt übers Meer nach Venedig - und deshalb nennt man das aus ihm gewonnene Blau noch heute "Ultramarin".

Die Anregung zu seinen neuen Ideen verdankt Bellini seinem Vater Jacopo. Der hat im frühen 15. Jahrhundert in Florenz gearbeitet. Seine Bilder zeigen, dass er sich als Maler nie ganz vom Mittelalter lösen konnte - aber er hat die Ideen der Frührenaissance in zwei Skizzenbüchern festgehalten, die er seinen Söhnen hinterlässt. Ihr Leben lang schöpfen Giovanni und Gentile daraus - und so wird Jacopo Bellini zum Stammvater der venezianischen Malerschule.

Nicht nur Giovannis Vater und Bruder sind Maler, sondern auch sein Schwager. Andrea Mantegna ist sogar Hofmaler beim Herzog von Mantua - eine höchst prestigeträchtige Stellung. Mantegna ist sehr von der Skulptur geprägt. Dieses Bild etwa wirkt fast wie ein Relief.

Um die Szene hat Mantegna einen steinernen Rahmen gemalt. Damit nimmt er ein Wort des Humanisten Leon Battista Alberti auf: "Ein Bild muss wie ein Fenster sein." Wir schauen in den Tempel: Josef beobachtet, wie Maria dem frommen Simeon das Christuskind übergibt. Eine Ecke des Kissens ragt über den gemalten Rahmen hinaus, fast will man danach greifen - so bezieht Mantegna die Betrachter in das Bild mit ein.

Wohl zum ersten Mal in der europäischen Kunst sehen wir hier übrigens einen Maler mit seiner Ehefrau: ganz rechts Mantegna selbst, ganz links seine Frau Nicolosia - Bellinis Schwester.

Jahrzehntelang war Giovanni Bellini die überragende Künstlerpersönlichkeit der Stadt Venedig.ls er 1516 stirbt, wird einer seiner Schüler sein Nachfolger als Stadtmaler: Tiziano Vecellio, genannt Tizian.

1530 wird in Bologna Karl V. zum Kaiser gekrönt - der Herrscher, "in dessen Reich die Sonne nie untergeht". Auch Tizian ist dabei. Und der neue Kaiser ist von dessen Bildern so beeindruckt, dass er ihn drei Jahre später zum Hofmaler, zum Pfalzgrafen und zum Ritter des goldenen Sporns ernennt. Zugleich bleibt Tizian aber Stadtmaler in Venedig, er verlässt seine Heimatstadt nur sehr ungern. Aber noch fast zwanzig Jahre später posiert er stolz mit den Ehrenketten, die ihm Karl als Zeichen seiner Würden verliehen hat.

Hier sehen wir vermutlich Karls Sohn, den späteren König Philipp II. von Spanien - von dem wir wissen, dass er gerne Orgel spielte. Tizian vereint auf diesem Bild zwei typisch venezianische Motive: die ruhende Venus und das Musikerbild. Wie alle Gemälde lässt es sich vielfältig deuten. Die gängigste Auslegung geht davon aus, dass Tizian die Hierarchie der Sinne darstellt, die Rivalität zwischen Sehen und Hören: Philipp wendet sich vom Klang der Musik ab, um die nackte Venus mit ihrem Sohn Amor anzuschauen.

Dabei lenkt Tizian auch den Blick des Betrachters auf eindeutige Weise: folgt er Philipps Blick, sieht er zuerst die Brüste der Venus, von Amor zärtlich umarmt. Zugleich leitet der weiche Samtstoff den Blick um die nackte Figur herum bis zu dem herabhängenden Zipfel. Darunter erahnt man zuerst, ganz klein in der fernen Landschaft, ein tanzendes Liebespaar. Weiter unten aber weist der Tuchzipfel auf den kaum verhüllten Schoß der Venus.

Auch das ein Zeichen der neuen Weltsicht: Nach der Körperfeindlichkeit des Mittelalters wird der Blick in der Renaissance freier, es entstehen offen erotische Bilder - und ihre Motive stammen nicht aus der Bibel, sondern aus der antiken Mythologie.

Die Balance zwischen animalischer Sinnlichkeit und zivilisierter Beherrschung - für sie steht auch der kleine Hund: wild blitzen seine Augen und Zähne, und doch ist er ein Haustier, das erste, das der Mensch einst gezähmt hat.

Insgesamt sechs Versionen gibt es von diesem Motiv, alle um 1550 herum entstanden. Tizian ist nicht wählerisch: wenn ein Bild gut ankommt, lässt er von Mitarbeitern seiner Werkstatt die Umrisse nachzeichnen und mit Variationen auf eine neue Leinwand übertragen. Diese Version aber ist so gut gemalt, dass sie von Tizians eigener Hand stammen muss. Dafür spricht auch die Landschaft: wie schon bei Bellini ist sie nicht schmückender Hintergrund, sondern ein wichtiger Teil der Komposition.

Von Tizians Ideen lassen sich noch ein Jahrhundert später die Maler des Barock inspirieren. Mit ihm ist auch Venedig auf dem Höhepunkt der Renaissance angekommen. Schon zu Bellinis Zeiten aber hat auch der größte Maler der deutschen Renaissance hier gearbeitet: Dürer.