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Eine Stadt sucht das Ideal
Eine Stadt sucht das Ideal
Das Karmeliterkloster Santa Maria del Carmine in Florenz. Mit 14 Jahren wird hier ein Waisenkind namens Filippo Lippi aufgenommen.
Zwölf Jahre später ist Bruder Filippo zum berühmten Maler geworden. Er verlässt das Kloster, bleibt aber Mönch. Bis er mit über 50 Jahren in einem anderen Kloster Lucrezia Buti trifft. Für ein Bild sitzt sie Filippo Modell - und kurz darauf brennen die beiden durch. Frucht der verbotenen Liebe ist Filippino Lippi, auch er wird später ein berühmter Maler.
Was wie ein großer Skandal klingt, ist damals gar nicht ungewöhnlich. Lippi bekommt weiter Aufträge, auch von der Kirche - und von seinen Gönnern, der mächtigen Familie de' Medici. Im 15. Jahrhundert ist Italien ein Flickenteppich von Stadtstaaten, die erbittert miteinander konkurrieren. Der glanzvollste von ihnen ist Florenz, beherrscht von den Medici. Vom Papst persönlich haben sie sich die Erlaubnis besorgt, in ihrem Privatpalast eine Kapelle zu bauen - und für diese Kapelle malt Fra Filippo Lippi 1459 die "Anbetung im Walde" als Altarbild.
Das Bild zeigt Maria, die ihr neugeborenes Kind anbetet - eigentlich Teil der Weihnachtsgeschichte. Tatsächlich sah man in der Kapelle rechts und links daneben Ochs und Esel und die Heiligen Drei Könige, auf Fresken von Benozzo Gozzoli. Sie sind heute noch dort, das Altarbild aber wurde vor Jahrhunderten durch eine zeitgenössische Kopie ersetzt. Lippis Gemälde kam über 300 Jahre später in die Sammlung des englischen Kaufmanns Edward Solly. Solly lebte lange in Berlin, und im Jahre 1821 kaufte der preußische Staat seine ganze Sammlung von über 3000 Gemälden - eines der Fundamente der Berliner Gemäldegalerie.
Im Zentrum von Lippis Bild steht wie bei Rogiers Altar die Dreifaltigkeit: Die Strahlen Gottes schießen förmlich aus dem Himmel hervor und umgeben das Christuskind. Sie sind wie die Heiligenscheine aus reinem Gold und müssen im Licht der Kerzen gestrahlt und geglitzert haben - denn die Kapelle hatte keine Fenster. Auch sonst hat Lippi ganz in der mittelalterlichen Tradition kostbarste Materialien verwendet: das tiefe Blau von Marias Mantel etwa besteht aus gemahlenem Lapislazuli.
Die Pflanzen und Tiere sind Symbole, die schon bei der Geburt Christi auf die Passion hindeuten - auch das alte Tradition. Aber auch hier zeigt sich der neue Sinn für Beobachtung: Lippi hat sie penibel nach der Natur gemalt. Der Distelfink oder Stieglitz sucht sich Samen zwischen Dornen - eine Anspielung auf die Dornenkrone. Die vier roten Nelken, auch "Nägeli-Blumen" genannt, stehen wegen ihrer Form für die Nägel, mit denen Christus ans Kreuz geschlagen wurde. Die weißen Lilien dagegen sind von alters her Sinnbild für die unbefleckte Reinheit der Gottesmutter.
Im Vordergrund hat Lippi das Bild signiert: "Frater Philippus pinxit". Die Axt erinnert an ein Wort von Johannes dem Täufer:
"Es ist schon die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt; welcher Baum nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und in das Feuer geworfen."
Gleich darüber Johannes selbst mit dem Spruchband "Ecce agnus dei..." - "Siehe das Lamm Gottes". Er taucht auf fast allen Bildern aus Florenz auf, denn er ist der Patron der Stadt. Im Hintergrund verschlingt ein Storch eine Schlange- Symbol für Christus, der das Böse besiegt.
Im Mittelpunkt des Bildes aber kniet die wunderschöne Maria. Lippi zeigt sie ganz realistisch jung - nach der Bibel war sie ja bei Christi Geburt erst sechzehn Jahre alt. Aber während die Altniederländer in ihren Porträts schonungslos auch Doppelkinn oder Bartstoppeln malen, zeigt Lippi eher ein Idealbild der Maria. Das wird während der ganzen italienischen Renaissance so bleiben: der Mensch steht im Mittelpunkt der Kunst - aber er wird idealisiert. Die Künstler suchen nach idealen Maßen und Proportionen, nach der idealen Schönheit. Allerdings wirken die schöne Madonna und ihr Kind hier noch ein bisschen so, als seien sie in den Wald nur hineingesetzt. Vorder- und Hintergrund wirklich miteinander zu verschmelzen - das wird Lippis berühmtester Schüler perfektionieren: Sandro Botticelli.
Wie schon Rogier van der Weyden bringt Botticelli zur Vollendung, was sein Lehrer begonnen hat. 1469 stirbt Lippi. Botticelli ist Mitte zwanzig und gründet nun seine eigene Werkstatt. Dort entstehen unter anderem Porträts der Herrscherfamilie - hier Giuliano de' Medici. Er fällt 1478 einer Verschwörung zum Opfer: während eines Gottesdienstes wird er niedergestochen; er verblutet auf dem Boden der Kathedrale. Sein Bruder Lorenzo entkommt mit knapper Not - und wird zum größten aller Medici-Herrscher, genannt "il Magnifico". Lorenzo ist ein großer Bewunderer von Botticelli und verschafft ihm viele Aufträge. Vielleicht auch diesen: Giovanni de' Bardi, fast zwei Jahrzehnte lang Geschäftsführer der Medici in London, braucht ein Altarbild, für seine Familienkapelle in Santo Spirito in Florenz.
Giovanni heißt Johannes, und Botticelli malt de Bardi seine beiden biblischen Namenspatrone: den Evangelisten Johannes - erkennbar an seinem Adler - und wieder den Stadtheiligen, Johannes den Täufer, auf dem Ehrenplatz zur Rechten der Madonna. Sie selbst, hier als "Maria lactans" beim Stillen, sitzt auf einer Art Thron in einem Garten. Der ist ganz ihr vorbehalten: die beiden Johannes stehen nicht auf der Wiese, sondern auf der Einfassung davor. Sie verbinden also die Bereiche der Gottesmutter und der Betrachter und leiten deren Gebete weiter an Maria.
Ihr Garten enthält eine fantastische Fülle von Details. Wieder sind die Pflanzen Symbole und doch so genau gemalt, dass wir sie alle identifizieren können: Erdbeeren etwa stehen für das Blut, ihre fünf Blütenblätter für die fünf Wunden Christi. Dazu wieder die weißen Lilien - in ihnen Spruchbänder mit dem Zitat, das sie mit Maria vergleicht: "sicut lilia inter spinas", "wie eine Lilie unter Dornen". Nebenbei erlaubt Botticelli sich auch kleine Scherze: im Marmor des Thronsitzes etwa hat er ein Gesicht versteckt.
Das Bild ist ein Höhepunkt im Schaffen Botticellis, perfekt gemalt. Und das weiß auch de' Bardi. Laut Originalrechnung von 1485 bezahlt er Botticelli 40 Goldflorin für das Material - und fast genauso viel, nämlich 35 Goldflorin "für den Pinsel", also für seine künstlerische Meisterschaft. Sie wird geschätzt wie nie zuvor. Früher sollten Gold und kostbare Farben den Bildern ihren Wert geben, die Maler waren im Mittelalter Handwerker - nun werden sie als Künstler gefeiert und bewundert.
Im Gegensatz zu Lippis Maria im Wald verschmelzen Botticellis Figuren mit ihrer Umgebung: sie wirken harmonisch und ausgewogen. Und Botticelli wusste, dass das Bild in der Bardi-Kapelle über dem Altar hängen sollte und die Gläubigen es aus einer bestimmten Entfernung von unten anschauen würden. Genau auf diesen Blickpunkt hin ist es ausgerichtet. Von dort aus stimmt die Perspektive - und auch beim langgestreckten Körper der Maria passen die Proportionen.
Überhaupt - das Problem der Perspektive. Wie stellt man Räumlichkeit richtig dar? Eine elementare Frage, wenn man die reale Welt abbilden will. Den entscheidenden Durchbruch erzielt der Architekt Filippo Brunelleschi. Er baut die gewaltige Domkuppel, die bis heute Florenz beherrscht - und er entwickelt um 1415 die Fluchtpunktperspektive. Damit kann man endlich auch Gebäuden und Innenräumen eine realistische Tiefe geben. Wieder ist man der Ordnung in Gottes Schöpfung ein Stück näher gekommen - und zwar durch die neue, wissenschaftliche Weltsicht. Denn die Perspektive lässt sich mathematisch exakt konstruieren.
Wie Francesco di Giorgio Martini auf dieser architektonischen Vedute entwirft man nun "vollkommene" Räume und Städte - orientiert an den wiederentdeckten Idealen der Antike. Die Wiedergeburt der Antike - die "Renaissance". Florenz ist die Hauptstadt einer neuen Epoche geworden. Hier arbeiten die größten Gelehrten und unzählige Künstler daran, die Welt neu zu sehen. Michelangelo Buonarotti ist aus einem Ort in der Nähe gekommen, ebenso Leonardo aus dem Dorf Vinci. Sie alle lernen von einander - und von anderen Malern. So haben etwa italienische Kaufleute auch Bilder der Altniederländer um van Eyck und van der Weyden mit nach Florenz gebracht.
Auch ein junger Maler namens Raffaello Sanzio kommt Ende 1504 in die Stadt. Aus ihm wird einer jener Meister werden, die wir nur beim Vornamen nennen: Raffael.
Ein Jahr später malt er diese Madonna. Es ist erst sein zweites Rundbild, italienisch "Tondo" - damals ein beliebtes Format. Gerade 22 Jahre alt ist Raffael, und wie er von seinen großen Kollegen lernt, zeigt die Infrarotaufnahme: ursprünglich hatte Maria die Hand unter dem Fuß ihres Sohnes. Dann aber übermalt Raffael sie - die neue, anmutige Handhaltung hat er sich von Leonardo abgeschaut. Die Madonna sitzt auf einer Loggia fast in der Landschaft. Sie ist nicht himmlisch entrückt, sondern ganz irdisch Teil der Welt. Raffael gibt der Landschaft zusätzlich realistische Tiefe, indem er Umrisse in der Ferne leicht verschwimmen lässt - das so genannte "Sfumato". Auch hier hat er sich von Leonardo inspirieren lassen: der Tondo erinnert nicht zufällig an die Mona Lisa, die etwa gleichzeitig in derselben Stadt entstand.
Raffaels ganz eigene Schöpfung aber ist das Gesicht der Madonna. Auch er sucht nach idealer Schönheit - und niemand kann Kinder, Engel und vor allem Frauen so wunderbar malen. Ihre Zartheit, Anmut und Wärme verzaubern bis heute. Seine Geliebten soll er als Modelle benutzt haben, erzählt man sich.
Raffael wird schnell berühmt; nur ein paar Jahre später ruft ihn Papst Julius II. nach Rom. Dort schafft er Fresken, die alles übertreffen, was man je gesehen hat. Aber ihm bleiben kaum mehr als zehn Jahre, bis er 1520 stirbt. Gerade einmal 37 Jahre alt ist Raffael geworden - und schon zu Lebzeiten ein Mythos. Über alle Jahrhunderte galt er als einer der größten Maler aller Zeiten. Den Tondo der Madonna Terranuova kaufte der Berliner Museumsdirektor Gustav Friedrich Waagen 1854 auf ausdrücklichen Wunsch von König Friedrich Wilhelm IV. Heute besitzt die Galerie fünf Gemälde von Raffael.