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Die Villa dei Papiri

Im Jahre 1750 graben Arbeiter vor den Toren von Herculaneum einen Brunnen. Wieder stoßen sie auf antike Ruinen - und wieder entpuppt sich der Fund als Sensation: eine überwältigende Pracht von Bronzefiguren wird aus der Tiefe geborgen.

König Karl III. ordnet gezielte Grabungen an, zunächst unter Leitung seines Militäringenieurs Don Roque Joaquín Alcubierre. Der gehört noch ganz zur alten Schule der Ausgräber - ihn interessieren Schätze, nicht Erkenntnisse. Sogar bronzene Inschriften lässt er auf den Müll werfen. Das ändert sich, als sein Assistent die Leitung übernimmt. Der Schweizer Ingenieur Karl Weber gräbt systematisch Tunnel um Tunnel. Nach vier Jahren hat er schließlich in geduldiger Puzzlearbeit einen Grundriss erschlossen.

Es zeigt sich: was sie gefunden haben, ist eine Villa - also ein prachtvoller Landsitz - und zwar die größte der römischen Welt. Über 250 Meter zieht sie sich am Meer entlang, idyllisch auf einem Hügel gelegen - und unfassbar reich ausgestattet.

Valeria Sampaolo Direktorin des MANN:

"Der letzte Besitzer hatte eine Sammlung von bedeutenden Skulpturen aus Bronze und Marmor, die uns zeigt, welchen Geschmack, welches kulturelle Niveau die römische Senats-Arisktokratie hatte, der er mit großer Wahrscheinlichkeit angehörte. Es gibt verschiedene Hypothesen, wer der Eigentümer der Villa gewesen sein könnte - man denkt u.a. an Calpurnius Caesoninus Piso, den Schwiegervater von Julius Caesar.
Unter den Objekten aus der Villa sind eine Reihe von Porträts von hellenistischen Herrschern, Philosophen eigentlich, die unterstreichen, wie sehr man einem griechischen kulturellen Ideal anhing - darin sah man die Organisation des Staates nach Normen, nach Gesetzen, die eben von Philosophen und Rednern verkörpert werden."

Unter den mehr als neunzig Statuen fallen fünf großartige Frauenfiguren ins Auge - auch sie aus Bronze, mit Augen aus farbiger Glasmasse. Sie tragen einen peplos, ein traditionelles Gewand der griechischen Klassik. Winckelmann sieht in ihnen Tänzerinnen, später hält man sie für Wasserträgerinnen. Heute ist klar: sie sind "Danaiden", fünf der fünfzig Töchter von König Danaos, dem mythischen Ahnherren der Griechen. Auf seinen Befehl hatten sie in der Hochzeitsnacht ihre Ehemänner ermordet. Damit hatten sie zwar Griechenland vor Verrat gerettet - aber für ihre Morde wurden sie von den Göttern dazu verurteilt, bis in alle Ewigkeit Wasser in ein Fass mit Löchern zu schöpfen.

In der Antike waren solche uralten Mythen alltäglicher Teil des Lebens - sie gaben den Menschen Wurzeln und Gemeinschaftsgefühl. Und das nutzten natürlich auch Politiker. Der erste Kaiser, Augustus, etwa war ein Meister der Propaganda. Er ließ Statuen der Danaiden in Rom in seinem Apollo-Tempel aufstellen - die Botschaft war klar: so wie die Töchter aus Treue zum Vater ihre Männer getötet und damit Griechenland gerettet hatten, so hatte Augustus aus Treue zur Republik den Bürgerkrieg gegen seine eigenen Verwandten gewonnen und damit Rom gerettet.

Auch diese beiden Figuren sind wohl wieder Kopien von griechischen Statuen, wahrscheinlich aus dem späten vierten oder frühen dritten Jahrhundert vor Christus, also aus der Zeit des Hellenismus.

Eine Zeitlang hat man vermutet, dass sie Ringer sein könnten. Dagegen spricht aber ihre weit vorgebeugte Haltung - sie wären beim Kampf leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen. Heute nimmt man an, dass sie Läufer am Start zu einem Rennen darstellen, vielleicht Athleten bei den Pan-Hellenischen Spielen. Nicht nur in Olympia, sondern auch an anderen Orten fanden regelmäßig Wettkämpfe statt, zu denen Athleten aus der ganzen griechischen Welt anreisten.

Die Villa der Papyri ist heute zum Idealbild der römischen Luxusvilla geworden - so sehr, dass der Milliardär J. Paul Getty sie in den siebziger Jahren in Los Angeles als Museum nachbauen ließ.

Die wichtigste Entdeckung aber, der die Villa ihren modernen Namen verdankt, findet sich im Herbst 1752 gleich neben dem Atrium: über tausendachthundert Papyrusrollen - die einzige Bibliothek, die aus dem Altertum erhalten ist. Obwohl die Rollen verkohlt sind, versuchen die Forscher sofort, sie zu öffnen. Das führt einige Jahre lang nur dazu, dass sie zerfallen - bis Pater Antonio Piaggio, Restaurator für Antiken an der Bibliotheca Vaticana, eine spezielle Maschine entwirft. Mit ihr werden die Papyri unendlich langsam entrollt und mit einem Film aus Schweineblasen verstärkt.

Jetzt kann man die Texte endlich entziffern. Die Rollen enthalten hauptsächlich Schriften der Epikureischen Philosophie - darunter ein vorher unbekanntes Hauptwerk von Epikur selbst. Damit ist auch klar: die kleinen Büsten der Philosophen standen einst in den Regalen, um ihre jeweiligen Werke zu markieren.

Viele der Texte stammen von Philodemus von Gadara, einem Philosophen des ersten Jahrhunderts vor Christus. Man vermutet, dass es sich um seine Bibliothek handelt - zumal man weiß, dass Philodemus mit Caesars Schwiegervater Piso befreundet war. Fast alle Texte sind griechisch, nur wenige lateinisch geschrieben. Gibt es vielleicht noch eine zweite, lateinische Bibliothek? Das fragen sich auch die Forscher - aber bis heute ist die Villa der Papyri nicht vollständig ausgegraben.

1765 muss Karl Weber selbst die Tunnel schließen - giftige Gase machen die Arbeiten unmöglich. Erst mehr als zweihundert Jahre später legen Archäologen wenigstens einen kleinen Teil des Palastes frei. Es zeigt sich, dass er noch größer ist, als man dachte: er hatte nicht nur ein Stockwerk, sondern zog sich auf vier Ebenen an der Küste entlang. Noch wird darüber diskutiert, ob man auch den Rest der Villa ausgraben soll - selbst heute ein gewaltiges Unterfangen angesichts der Wände aus versteinerter Asche, unter denen sie begraben liegt.