Die Gotik
Barcelona am 23. Dezember 1228: Die Generalstände haben sich versammelt. Sie beschließen, mit König Jakob I. von Aragón ins Feld zu ziehen. Es geht gegen die Balearen: Die werden noch vom islamischen Gouverneur Abu Yahya regiert - deshalb hat Papst Gregor ihre Eroberung zum Kreuzzug erklärt.
Am 12. September 1229 treffen die Truppen aufeinander. In den Bergen der Serra de Portopí toben die Kämpfe - auf der einen Seite die Sarazenen, auf der anderen die christlichen Ritter von Aragon, jeder an seinem Wappen zu erkennen. Und sie gewinnen schließlich die Schlacht. Abends rasten die Ritter. König Jakob empfängt seine Getreuen im Zelt. Unter ihnen der Bischof von Barcelona - statt des Helms trägt er die Mithra, aber auch er ist ein Ritter. Beten und Kämpfen sind im Mittelalter kein Widerspruch.
Nur die Hauptstadt leistet jetzt noch Widerstand: Madîna Maûrqa, später bekannt als Palma de Mallorca. Dreieinhalb Monate halten die Belagerten durch - dann ergeben sich die letzten muslimischen Statthalter. Mallorca gehört zur Krone von Aragon - und König Jakob ist fortan "Jakob der Eroberer".
Die Bilder sind Meisterwerke der frühen Gotik im sogenannten linearen Stil: dicke Umrisslinien definieren alle Motive, selbst die steilen Berge, die zugleich als Hintergrund dienen und einzelne Szenen voneinander trennen. Die Fresken stammen aus dem Aguilar-Palast in Barcelona. Sie kamen zum Vorschein, als er 1961 zum Picasso-Museum umgebaut wurde - eine Sensation. Ihr Thema war allerdings keine Überraschung: der Kaufmann Bernat de Caldes hat das Haus ein halbes Jahrhundert nach der Eroberung gebaut - und seine Tochter war die Geliebte von König Alfons dem Prächtigen, dem Enkel von Jakob dem Eroberer.
Im dreizehnten Jahrhundert wird die Krone Aragon immer bedeutender. Nun gehören die Balearen dazu, 1237 hat Jakob auch das Königreich Valencia erobert, bald kommen die Königreiche Sardinien, Sizilien und für kurze Zeit sogar das Herzogtum Athen dazu. Ein mächtiges Reich - aber obwohl die einzelnen Länder einen gemeinsamen König haben, bleiben sie doch im Inneren immer eigenständig. Das Spätmittelalter wird die größte Blütezeit Kataloniens. Katalonische Seefahrer und Kaufleute beherrschen das westliche Mittelmeer, Barcelona und Valencia konkurrieren mit Genua und Venedig.
In Kunst und Architektur beginnt die Zeit der Gotik. Eine Fülle von Altarbildern erzählt im Museu Nacional davon, wie sich die Kunst im Laufe der Jahrhunderte nach und nach verändert. Denn neben dem Bau der großen Kathedralen ist es vor allem ein Genre, das die Kunst der Gotik prägt: der Hochaltar.
In romanischen Kirchen standen über den Altären häufig Baldachine. Dieses Bild etwa hing einst in der Kirche von Tavérnoles. Nur der Priester konnte beim Gottesdienst das Motiv sehen. Jetzt wandern solche Bilder hinter den Altar, so dass auch die Gemeinde sie sehen kann. Sie werden zu "Retabeln" - der Hochaltar ist geboren.Dazu kommt, dass in den gotischen Kathedralen die Säulen immer schlanker und die Fenster immer größer werden. An den Wänden gibt es kaum noch Platz für Fresken - deshalb malen die Künstler jetzt auf Holztafeln.
Die große Zeit der byzantinischen Kunst ist allmählich vorbei. Konstantinopel wird erobert, erst von Venedig, später von den Ottomanen. In Westeuropa bildet sich ein neuer Kunststil heraus, vor allem in Italien entstehen neue Ideen. Von ihnen lassen sich auch die Maler in Katalonien anregen - allen voran Ferrer Bassa. Er hat in Italien gearbeitet und dort ganz neue Bilder gesehen, vor allem von Giotto. Dessen Malstil bringt er mit nach Barcelona.
Die neuen Bilder überwinden die Strenge der byzantinischen Ikonen. Die Figuren sind nicht mehr stilisiert, sondern körperhaft und bewegt. Noch gibt es den abstrakten Goldgrund, der die Welt Gottes symbolisiert. Aber immer öfter stehen die Personen jetzt in konkreten, perspektivisch gemalten Räumen.
Zusammen mit seinem Sohn Arnau ist Ferrer Bassa einer der wichtigsten Künstler von Barcelona - bis 1348 beide an der Pest sterben. Dass wir ihre Namen kennen, ist Zeichen für eine neue Mentalität: zum ersten Mal treten die Künstler hinter ihren Werken hervor. Bisher haben Maler und Bildhauer sich als Handwerker gesehen, die ihre Werke zum Lob Gottes schaffen. Ihre eigene Persönlichkeit war unwichtig. Jetzt aber ändern sich die Zeiten. Die unumschränkte Macht der Kirche lässt allmählich nach, die Menschen wenden sich mehr und mehr auch den irdischen Verhältnissen zu. Sie werden selbstbewusster - und zum ersten Mal erfahren wir die Namen der Künstler.
Zu den einflussreichsten Malern in Katalonien gehören die Gebrüder Serra. Ihre Werkstatt beherrscht den Markt in Barcelona zwischen 1350 und 1400 - und aus ihr stammt eines der bekanntesten Bilder des Museums: Die "Madonna von den Engeln".
Ein Kopf des toten Heilands. An der Bruchstelle am Hals kann man sehen: Er gehörte einst zur Figur eines liegenden Christus - vermutlich war er Teil einer Szene am Heiligen Grab, ein populäres Genre im ganzen Mittelalter. Geschaffen hat ihn Jaume Cascalls, und zwar 1352 für das Augustiner-Kloster Sant Agustí Vell in Barcelona. Cascalls war einer der wichtigsten katalanischen Bildhauer Mitte des vierzehnten Jahrhunderts. Auch dieses Standbild des Heiligen Antonius stammt wohl von ihm. Es stand einst in der Antonius-Kirche in La Figuera im Süden Kataloniens.
Das Modell für den Heiligen könnte König Peter der Zeremoniöse gewesen sein, dessen Holfbildhauer Jaume Cascalls war. Die Farben der Statue sind noch gut erhalten. Nicht nur alle Skulpturen waren im Mittelalter farbig gefasst, sondern auch große Teile der Architektur. Heute kaum zu glauben: auch die gotischen Kathedralen müssen wir uns bunt vorstellen. Einen Eindruck davon gibt dieses eher einfache Retabel aus Stein.
Die Internationale Gotik
Gegen Ende des vierzehnten Jahrhunderts setzt sich in Westeuropa ein einheitlicher Kunststil durch. Noch immer hat ganz Europa eine gemeinsame Kultur: Alle Menschen sind Teil derselben Kirche, durch den ganzen Kontinent ziehen Mönche, Pilger und Händler - aber auch Baumeister und Künstler. Auch die Domherren der Kathedrale von Barcelona schicken ihren Chefbildhauer Pere Sanglada nach Frankreich und Flandern. Für ein neues Chorgestühl soll er Eichenholz kaufen. Sanglada bringt nicht nur das Holz, sondern auch die modernsten künstlerischen Ideen mit.
Diese Verzierungen kommen zum Vorschein, wenn man beim Chorgestühl die Sitzflächen hochklappt. "Misericordien", nennt man sie, "Barmherzigkeiten", weil sich die Chorherren beim langen Stehen während der Gottesdienste an sie anlehnen konnten. Die meiste Zeit sind die Misericordien verdeckt - vielleicht ist das der Grund dafür, dass Sanglada sie mit zum Teil sehr weltlichen Szenen verziert hat.
Zwei Männer messen ihre Kraft, zwei andere tragen die Sitzfläche. Ihre Gesichter wirken lebensecht, und die Falten der Gewänder sind dreidimensional gestaltet, weich und fließend. Deshalb nennt man diesen Stil auch den "Weichen Stil". Meistens spricht man heute aber von der "Internationalen Gotik" - denn sie ist in Böhmen, Burgund und Frankreich entstanden und beherrscht ab 1390 zwei Generationen lang die Kunst in ganz Westeuropa.
Viele Künstler in Katalonien lernen vom Dombildhauer Pere Sanglada - darunter Pere Oller, der selbst zu einem der bedeutendsten Bildhauer des 15. Jahrhunderts wird.
Neben Barcelona ist Valencia im Mittelalter eine der wichtigsten Hafenstädte - und eine berühmte Kunststadt. Hier treffen sich Künstler aus aller Herren Länder, und sie bringen ihre lokalen Vorlieben mit. Typisch für nordeuropäische Maler sind realistische, anschauliche Szenen - in Italien legt man besonders viel Wert auf die Farben. Gonçal Peris Sarrià vereint beides. Eines seiner Meisterwerke erzählt die Geschichte der Heiligen Barbara - in brillanten Farben, aber auch erschreckend anschaulich.
Der antike König Dioskuros, so berichtet die Legende, hat eine Tochter, die ist schön und klug - aber sie will nicht heiraten. Stattdessen lässt sie sich taufen und weiht ihr Leben Gott. Das ärgert ihren Vater. Er lässt einen Turm bauen, um sie einzusperren. Barbara aber bleibt unbeeindruckt - sie bittet nur den Baumeister, zu Ehren der Heiligen Dreieinigkeit statt zwei lieber drei Fenster zu bauen. Deshalb ist sie bis heute die Schutzheilige der Bauleute. Schließlich flieht sie doch, aber ihr Vater erwischt sie. Ein Hirte hat sie verraten - Gott verwandelt ihn zur Strafe samt seiner Herde zu Stein. Barbaras Vater lässt sie grausam foltern, um sie von ihrem Glauben abzubringen - vergeblich. Schließlich bringt er sie um. Barbara kommt direkt in den Himmel - ihren Mörder trifft die Strafe Gottes.
Die Heilige Barabara ist auch die Schutzheilige gegen Blitz und Sturm - darum wird sie besonders auf dem Land verehrt. Und aus einer ländlichen Kirche stammt auch dieses Altarbild: aus dem Dorf Puertomingalvo an der Grenze der Königreiche Aragon und Valencia.
Engel bei der Arbeit: sie reparieren das Dach des Stalls. Im Hintergrund verkündet ein Engel den Hirten mit ihren Schafen die Geburt Christi. Auch solche Liebe zum Detail ist typisch für die Internationale Gotik. Das Weihnachtsbild brachte seinen Schöpfern wenig Glück: Den Auftrag dafür hatte eigentlich Pere Serra bekommen - aber noch bevor er anfangen konnte, starb er. Stattdessen begann Guerau Gener die Arbeit, starb aber seinerseits kurz darauf. Vollendet hat das Werk schließlich Lluís Borrassà - einer der produktivsten Maler der katalanischen Gotik.
Die Hispano-flämische Schule
Nach einem halben Jahrhundert geht die Zeit der Internationalen Gotik allmählich vorbei. Die Machtverhältnisse verändern sich weiter. Neben Kirche und König werden die Städte immer wichtiger. Auf Burgen und in Dörfern herrschte bisher vor allem Naturalwirtschaft. In den Städten aber setzt sich allmählich das Geld durch. Die führenden Bürger werden immer reicher und immer mächtiger, zugleich sind sie als Geschäftsleute Realisten - und das spiegelt sich auch in der Kunst.
Im Jahre 1443 geben die Ratsherren der Stadt Barcelona ein Altarbild für die Rathauskapelle in Auftrag. Zwei Jahre arbeitet Lluís Dalmau daran - in einem ganz neuen Stil. Den hat er in Flandern gelernt. Der Hof von Burgund unter König Philipp dem Guten ist eines der künstlerischen Zentren Europas. Hier haben Robert Campin, Rogier van der Weyden und Jan van Eyck die Malerei vollkommen verändert. Vor allem van Eyck ist Pionier einer neuen Technik: er malt mit Ölfarben statt mit Tempera. Seine Bilder sind realistisch wie noch nie - voller Licht und Atmosphäre.
Lluís Dalmau nimmt den Stil aus Burgund begeistert auf. Auch er malt dreidimensionale Räume - aus den Fenstern blickt man in realistische Landschaften. Die Ratsherren porträtiert er so, wie sie wirklich aussehen. Und er stellt sie größer dar als die Jungfrau Maria. Auch das entspricht zwar ganz dem wahren Leben - wäre aber noch wenige Jahrzehnte vorher Gotteslästerung gewesen.
Die neue Malweise kommt an. Zwischen Katalonien und Burgund entwickelt sich ein reger Austausch. Viele Bilder aus Barcelona ähneln denen aus Flandern so sehr, dass Kunsthistoriker heute von einer "hispano-flämischen Schule" sprechen.
Neben Dalmau gehört auch Jaume Huguet zu ihren großen Meistern. Für das Kloster Sant Agustí Vell hat er einst den größten gotischen Hochaltar von Katalonien geschaffen. Acht der Tafeln haben überlebt, fünf davon sind hier im Nationalmuseum ausgestellt.
Die Weihe des Heiligen Augustin und das letzte Abendmahl hat der Meister Jaume Huguet wohl selbst gemalt, die anderen Bilder nur entworfen und von seinen Mitarbeitern vollenden lassen. Die Unterscheide springen sofort ins Auge, wenn man die Gesichter vergleicht. Die Ketzer, mit denen Augustin diskutiert, sind nicht schlecht gemalt - aber wieviel besser sind die Gesichter der Kleriker bei seiner Bischofsweihe! Auch die Jünger beim letzten Abendmahl sind voller Emotionen - auch sie zeigen die Handschrift des Meisters.
Auch Bartholomé Bermejo hat den Stil aus Burgund übernommen. Auch er benutzt Ölfarben und malt realistisch. Hier ist nichts mehr stilisiert. Am Tag des Jüngsten Gerichts empfängt Christus die Rechtschaffenen. Die Tore zur Hölle hat er aufgebrochen - ein Dämon ist dabei zerquetscht worden. Andere Dämonen martern einen Sünder - eine sehr realistische Warnung an die Betrachter, nicht vom Pfad der Tugend abzukommen. Im Hintergrund die offene Landschaft.
Auf dem Bild der Auferstehung spielt die Landschaft eine entscheidende Rolle. Die drei Marien kommen mit Parfumflakons, um den toten Jesus zu salben. Hinter ihnen fällt der Blick auf den Sonnenaufgang. Es ist als ob die segnende Hand des Heilands darauf zeigt: mit seiner Auferstehung beginnt ein neuer Tag, eine neue Zeit. Die Morgenröte einer neuen Zeit - mit so einem Symbol, der Natur entlehnt, hat eine neue Epoche begonnen: Die Renaissance.